1 Unterscheidung zwischen Steuerbescheiden und sonstigen Verwaltungsakten
2 Die Rücknahme rechtswidriger Verwaltungsakte nach § 130 AO
2.1 Definition des rechtswidrigen Verwaltungsaktes
2.2 Rücknahme nicht begünstigender rechtswidriger Verwaltungsakte
2.3 Rücknahme begünstigender rechtswidriger Verwaltungsakte
3 Widerruf rechtmäßiger Verwaltungsakte nach § 131 AO
3.1 Definition des rechtmäßigen Verwaltungsaktes
3.2 Widerruf eines rechtmäßigen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes
3.3 Widerruf eines rechtmäßigen begünstigenden Verwaltungsaktes
4 Differenzierung belastender oder begünstigender Verwaltungsakt
5 Korrektur der Anrechnungsverfügung
5.1 Unzutreffende Angaben durch den Steuerpflichtigen
5.2 Unzutreffende Anrechnung von Einkommensteuervorauszahlungen
5.3 Keine Anrechnung i.S.d. § 36 Abs. 2 EStG bei nicht erklärten Einkünften
5.4 Korrektur der Anrechnungsverfügung bei Änderung der Steuerfestsetzung
5.5 Verjährung bei Anrechnungsverfügungen
5.5.1 Grundsatz
5.5.2 Ablauf der Zahlungsverjährungsfrist nach Steuerfestsetzung
5.5.3 Beginn der Zahlungsverjährungsfrist bei zu Unrecht in der Anrechnungsverfügung festgesetzter Erstattung
5.5.4 Beachtung der Festsetzungsverjährung
5.5.5 Nachträgliche Anrechnung von Kapitalertragsteuer auf die Einkommensteuer
5.6 Widerstreitende Anrechnungsverfügungen und Abrechnungsbescheide – § 218 Abs. 3 AO i.V.m. § 174 AO
6 Berücksichtigung der Kleinbetragsverordnung
7 Literaturhinweise
8 Verwandte Lexikonartikel
Hinsichtlich der Korrektur von Verwaltungsakten muss zwischen Steuerbescheiden und sonstigen Verwaltungsakten unterschieden werden. Zur Korrektur von Steuerbescheiden siehe → Aufhebung und Änderung von Steuerbescheiden, → Schlichte Änderung sowie → Änderung von Steuerbescheiden nach § 175 AO. Die dort aufgeführten Änderungsvorschriften finden gem. § 172 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. d AO bei der Rücknahme eines rechtswidrigen und dem Widerruf eines rechtmäßigen sonstigen Verwaltungsaktes keine Anwendung. Für die sonstigen Verwaltungsakte gelten neben der Berichtigung von offenbaren Unrichtigkeiten i.S.d. § 129 AO (→ Berichtigung von Schreib-/Rechenfehlern und ähnlichen offenbaren Unrichtigkeiten gem. § 129 AO und § 173a AO) die §§ 130, 131 AO.
§ 130 AO regelt die Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes. Ein Verwaltungsakt ist rechtswidrig, wenn er ganz oder teilweise gegen zwingende gesetzliche Vorschriften verstößt, ermessensfehlerhaft ist oder eine Rechtsgrundlage überhaupt fehlt.
Nicht begünstigende rechtswidrige Verwaltungsakte können jederzeit mit Wirkung für die Zukunft oder die Vergangenheit zurückgenommen werden, auch wenn die Einspruchsfrist abgelaufen ist. Nicht begünstigende Verwaltungsakte sind insbesondere:
Ablehnung beantragter begünstigender Verwaltungsakte (→ Verwaltungsakt)
Festsetzung von steuerlichen Nebenleistungen,
Ablehnung einer Erstattung von Nebenleistungen,
Auskunftsersuchen,
Aufforderung zur Buchführung,
Haftungsbescheide,
Duldungsbescheide,
Prüfungsanordnungen,
Anforderung von Säumniszuschlägen (→ Säumniszuschlag),
Pfändungen.
Die Rücknahme eines begünstigten rechtswidrigen Verwaltungsaktes ist nur unter Einschränkungen möglich (§ 130 Abs. 2 und 3 AO), z.B. wenn er durch unlautere Mittel, wie arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt worden ist oder die Begünstigung durch unrichtige oder unvollständige Angaben erwirkt wurde. Eine Rücknahme ist weiterhin zulässig, wenn die Rechtswidrigkeit dem Begünstigten bekannt oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht bekannt war.
Begünstigende Verwaltungsakte sind insbesondere:
Fristverlängerungen,
Gewährung von Buchführungserleichterungen,
Billigkeitsmaßnahmen,
Verlegung des Beginns der Außenprüfung,
Stundungen,
Einstellung oder Beschränkung der Vollstreckung,
Aussetzung der Vollziehung.
Verfügungen des Finanzamts über die Anrechnung von entrichteten Vorauszahlungen oder einbehaltenen Steuerabzugsbeträgen auf die im Wege der Veranlagung festgesetzte Jahressteuerschuld gehören zum Steuererhebungsverfahren. Aus Zweckmäßigkeitsgründen werden sie mit der Steuerfestsetzung in einem Bescheid verbunden. Enthält die Anrechnungsverfügung einen Fehler zugunsten des Stpfl., kann sie nach § 130 Abs. 2 AO nur zurückgenommen werden, wenn eine der hierfür im Gesetz vorgesehenen Voraussetzungen gegeben ist. Sie ist insoweit ein begünstigender Verwaltungsakt.
Ein rechtmäßiger Verwaltungsakt kann nach § 131 AO nur für die Zukunft widerrufen werden. Ein Verwaltungsakt ist rechtmäßig, wenn er im Zeitpunkt der Bekanntgabe dem Gesetz entspricht. Maßgebend für die Entscheidung, ob ein rechtswidriger oder ein rechtmäßiger Verwaltungsakt vorliegt, ist die spätere Erkenntnis (Rückschau) der Rechts- und Sachlage im Zeitpunkt des Zugangs des Verwaltungsaktes, auch wenn das Finanzamt im Zeitpunkt des Erlasses des Verwaltungsaktes von der Rechtmäßigkeit überzeugt war bzw. der Verwaltungsakt rechtmäßig war und später rechtswidrig wird.
Ein rechtmäßiger nicht begünstigender Verwaltungsakt kann, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft widerrufen werden.
Ein rechtmäßiger begünstigender Verwaltungsakt darf, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft nur unter den Voraussetzungen des § 131 Abs. 2 AO widerrufen werden. So ist ein Widerruf nur zulässig, wenn er durch Rechtsvorschrift zugelassen oder im Verwaltungsakt vorbehalten ist oder wenn die Finanzbehörde aufgrund nachträglich eingetretener Tatsachen berechtigt wäre, den Verwaltungsakt nicht zu erlassen, und wenn ohne den Widerruf das öffentliche Interesse gefährdet würde.
Für die Frage, ob Abs. 1 oder Abs. 2 in den §§ 130/131 AO Anwendung finden, ist entscheidend, ob ein belastender oder ein begünstigender Verwaltungsakt zu korrigieren ist.
Belastende (nicht begünstigende) Verwaltungsakte i.S.d. Abs. 1 der §§ 130/131 AO liegen immer dann vor, wenn eine Korrektur zugunsten des Stpfl. vorgenommen werden soll.
Begünstigende Verwaltungsakte, für die Abs. 2 der §§ 130/131 AO Anwendung finden, liegen vor, wenn eine Korrektur zulasten des Stpfl. vorgenommen werden soll. Die Korrektur eines Verwaltungsaktes zu Gunsten des Stpfl. ist nach den Absätzen 1 der §§ 130, 131 AO bei Vorliegen eines sachlichen Grundes ohne weitere Voraussetzung möglich. Die Korrektur zu Lasten des Stpfl. ist nach den Absätzen 2 der §§ 130/131 AO nur unter den dort genannten engen Voraussetzungen wegen des Vertrauensschutzes möglich.
Die Anrechnungsverfügung ist ein sonstiger Verwaltungsakt. Maßgebend für die Korrektur von fehlerhaften Anrechnungen sind die §§ 129, 130 und 131 AO. Ist die fehlerhafte Anrechnung auf ein mechanisches Versehen zurückzuführen, kann ggf. eine Berichtigung nach § 129 AO erfolgen (→ Berichtigung von Schreib-/Rechenfehlern und ähnlichen offenbaren Unrichtigkeiten gem. § 129 AO und § 173a AO). Liegt ein Rechtsfehler vor, ist die Korrektur nach § 130 AO zu prüfen, da die Anrechnung rechtswidrig ist. Wurde insoweit eine zu niedrige Anrechnung vorgenommen, liegt ein belastender Verwaltungsakt vor, da eine Korrektur zugunsten vorzunehmen ist. Eine Rücknahme des rechtswidrigen Verwaltungsaktes kann ohne Prüfung weiterer Voraussetzungen gem. § 130 Abs. 1 AO durchgeführt werden. Ist eine zu hohe Anrechnung erfolgt, liegt ein begünstigender Verwaltungsakt vor, da eine Korrektur zuungunsten vorzunehmen ist. Die Rücknahme des rechtswidrigen Verwaltungsaktes ist nur unter den Voraussetzungen des § 130 Abs. 2 Nr. 1 bis 4 AO möglich. Daraus folgt, dass eine rechtsfehlerhafte zu hohe Anrechnung nur noch unter bestimmten Voraussetzungen korrigiert werden kann.
§ 130 Abs. 2 Nr. 3 AO setzt kein Verschulden des Begünstigten voraus. Die objektive Unrichtigkeit der von diesem gemachten Angaben rechtfertigt vielmehr als solche die Rücknahme eines begünstigenden Verwaltungsakts. § 130 Abs. 2 Nr. 3 AO stellt nicht darauf ab, ob die Finanzbehörde die Unrichtigkeit der Angaben erkennen konnte. In dem vom BFH mit Urteil vom 22.8.2006 entschiedenen Fall (I R 42/05, BFH/NV 2007, 404) hatte das Finanzamt gegenüber dem Gesellschafter-Geschäftsführer einer GmbH Körperschaftsteuer angerechnet. Das Finanzamt war an die nachfolgende Abrechnung nicht gebunden, weil der Begünstigte die Anrechnung durch unzutreffende Angaben bewirkt hatte. Das ist u.a. dann der Fall, wenn der Gesellschafter-Geschäftsführer dem Finanzamt gegenüber das Vorliegen von verdeckten Gewinnausschüttungen geltend gemacht und entsprechende Steuerbescheinigungen der GmbH vorgelegt hat, während tatsächlich keine verdeckten Gewinnausschüttungen stattgefunden haben.
§ 130 Abs. 2 Nr. 4 AO enthält ermessenslenkende Vorgaben (intendiertes Ermessen). Deshalb ist eine Anrechnungsverfügung im Allgemeinen im Interesse von Gesetzmäßigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung zurückzunehmen, wenn der Begünstigte deren Rechtswidrigkeit erkannt oder lediglich infolge grober Fahrlässigkeit nicht erkannt hat. Diese Regelfolge des § 130 Abs. 2 Nr. 4 AO ist grundsätzlich nicht begründungsbedürftig. Hat die Finanzbehörde beim Erlass eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes den ihr vollständig bekannten Sachverhalt unrichtig gewürdigt oder den Inhalt des anzuwendenden Rechts verkannt, beginnt die Ausschlussfrist von einem Jahr seit dem Zeitpunkt der Kenntnisnahme für die Rücknahme des Verwaltungsaktes nach § 130 Abs. 3 AO erst, wenn der zur Entscheidung berufene Sachbearbeiter der zuständigen Behörde die Rücknehmbarkeit des rechtswidrigen Verwaltungsaktes erkannt hat (BFH Urteil vom 26.6.2007, BStBl II 2007, 742).
Notwendige Voraussetzung einer Anrechnung ist, dass die betreffenden Kapitalerträge zur Besteuerungsgrundlage geworden sind, und zwar unabhängig davon, ob sie sich auf die Höhe der festgesetzten Steuer ausgewirkt haben oder nicht (BFH Beschluss vom 24.8.2009, VII B 42/09, BFH/NV 2009, 1989). Verschwiegene Kapitalerträge, die sich wegen eines Freibetrags nicht auf die festzusetzende Einkommensteuerschuld ausgewirkt hätten und daher nicht erklärt wurden, gelten als nicht erfasst i.S.d. § 36 Abs. 2 EStG.
Wird ein Einkommensteuerbescheid geändert, weil die in ihm erfassten Lohnzahlungen wegen Festsetzungsverjährung nicht erfasst werden dürfen, kann die mit dem Einkommensteuerbescheid verbundene Anrechnungsverfügung, welche die auf den Lohn entrichtete Lohnsteuer angerechnet hatte, nach § 131 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AO widerrufen werden (BFH Urteil vom 9.12.2008, VII R 43/07, BFH/NV 2009, 627). Ändert sich die Festsetzung der Einkommensteuer, ist im Umfang dieser Änderung auch die mit dem Änderungsbescheid verbundene Anrechnungsverfügung anzupassen, ohne dass der Anpassung bis dahin ggf. bereits abgelaufene Zahlungsverjährungsfristen bezüglich früher entstandener Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis entgegenstehen könnten. Dies folgt aus der durch § 36 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 EStG hergestellten Verknüpfung zwischen Steuerfestsetzungs- und Steuererhebungsverfahren, die dem Steuerbescheid eine einem Grundlagenbescheid ähnliche bindende Wirkung für ihm folgende Anrechnungsverfügungen bzw. Abrechnungsbescheide gibt. Die Anrechnungsverfügung ist der geänderten Steuerfestsetzung anzupassen, indem der geänderte festgesetzte Betrag in sie eingestellt wird. Dies hat innerhalb der Zahlungsverjährungsfrist des § 228 AO zu geschehen, die mit der Bekanntgabe des Steueränderungsbescheids (insoweit erneut) in Lauf gesetzt wird. Unterbleibt eine wegen Änderung eines Steuerbescheides erforderliche Berichtigung der Anrechnungsverfügung im Rahmen der Steuerbescheidänderung, kann sie innerhalb der fünfjährigen Zahlungsverjährungsfrist, die durch die Bekanntgabe des Steueränderungsbescheides in Lauf gesetzt wird, mit einem Abrechnungsbescheid i.S.d. § 218 Abs. 2 AO nachgeholt werden. Entsprechendes gilt für die unterbliebene Auswertung eines Feststellungsbescheides (BFH vom 29.10.2013, VII R 68/11, BStBl II 2016, 115).
Eine Korrektur der Anrechnungsverfügung zur nachträglichen Berücksichtigung von Steuerabzugsbeträgen ist nur innerhalb der durch die Anrechnungsverfügung in Lauf gebrachten Zahlungsverjährungsfrist i.S.d. § 228 AO zulässig.
Eine Korrektur der Anrechnungsverfügung ist nur innerhalb der durch die Anrechnungsverfügung in Lauf gebrachten Zahlungsverjährungsfrist zulässig (BFH Urteil vom 12.2.2008, BStBl II 2008, 504, VII R 33/06 und vom 27.10.2009, BStBl II 2010, 382, VII R 51/08). Die Verjährungsfrist des § 228 AO beginnt mit Ablauf des Kalenderjahres der Bekanntgabe der Steuerfestsetzung und beträgt fünf Jahre. Nach Ablauf der Verjährungsfrist soll Rechtssicherheit darüber einkehren, was der Steuerpflichtige aufgrund der Steuerfestsetzung unter Berücksichtigung anzurechnender Vorauszahlungen zu zahlen hat und was ihm zu erstatten ist. Umgekehrt kann der Steuerpflichtige nach Ablauf der Verjährungsfrist nicht mehr verlangen, dass auf die festgesetzte Steuer nachträglich etwas angerechnet oder erstattet wird. Vgl. OFD Niedersachsen vom 26.2.2015, S 0450-49-St 144.
Unterbleibt eine wegen Änderung eines Steuerbescheides erforderliche Berichtigung der Anrechnungsverfügung im Rahmen der Steuerbescheidänderung, kann sie innerhalb der fünfjährigen Zahlungsverjährungsfrist, die durch die Bekanntgabe des Steueränderungsbescheides in Lauf gesetzt wird, mit einem Abrechnungsbescheid i.S.d. § 218 Abs. 2 AO nachgeholt werden. Entsprechendes gilt für die unterbliebene Auswertung eines Feststellungsbescheides (BFH vom 29.10.2013, BFH/NV 2014, 393, VII R 68/11).
Soweit die Anrechnungsverfügung keinen Widerrufsvorbehalt enthält, kann eine Korrektur der Anrechnungsverfügung bis zum Eintritt der Zahlungsverjährung nur nach §§ 129–131 AO erfolgen. Die Anrechnungsverfügung entfaltet gegenüber einem späteren Abrechnungsbescheid Bindungswirkung. Diese Bindungswirkung muss deshalb beim Erlass eines Abrechnungsbescheides nach § 218 Abs. 2 AO beachtet werden (AEAO zu § 218, Nr. 3).
Die OFD Hannover nimmt mit Verfügung vom 3.6.2008 (S 0351-77-StO 143, LEXinform 5231504) dazu Stellung, ob die Vorschriften über die Festsetzungsverjährung zu beachten sind. Danach ist zu beachten, dass eine Anrechnung von Kapitalertragsteuer gem. § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG nur zulässig ist, soweit sie auf die bei der Veranlagung erfassten Einkünfte entfällt. Die nachträgliche Anrechnung der Kapitalertragsteuer scheidet deshalb aus, wenn die betreffenden Kapitalerträge wegen eingetretener Festsetzungsverjährung nicht mehr der Einkommensteuer unterworfen werden können. Vgl. auch OFD Niedersachsen, 26.2.2015, S 0450-49-St 144. Damit greift in diesen Fällen faktisch die Festsetzungs- und nicht die Zahlungsverjährung.
Mit Urteil vom 25.10.2011 (BStBl II 2012, 220) hat der BFH entschieden, dass die Anrechnungsverfügung ein deklaratorischer, bloß bestätigender Verwaltungsakt sei, der keine Ansprüche begründet, die nicht bereits unabhängig von der Anrechnungsverfügung bestehen. Für den Beginn der (Zahlungs-)Verjährungsfrist für Ansprüche, die sich nicht unmittelbar aus Steuerfestsetzungen ergeben (z.B. Entstehung von Ansprüchen infolge irrtümlicher Berücksichtigung in Wahrheit nicht festgesetzter Steuerbeträge in der Anrechnungsverfügung), sei noch keine Entscheidung getroffen worden. Allerdings sei auch das, was die Anrechnungsverfügung insoweit als vermeintlich festgesetzte und gezahlte Lohnsteuer ausweist, nicht bloße Kassenmitteilung, sondern feststellender Verwaltungsakt.
»Grundlage« des Anspruches, der die Ansprüche aus dem Steuerverhältnis i.S.d. § 218 Abs. 1 Satz 1 AO lediglich »verwirklicht«, seien die im Steuerfestsetzungsverfahren ergangenen Entscheidungen, deren Erlass die Zahlungsverjährung auch dann in Lauf setze, wenn sie nicht den Inhalt haben, den das Finanzamt bei seinen Entscheidungen im Steuererhebungsverfahren, insbesondere bei der Abrechnung gemäß § 36 Abs. 4 EStG, unterstellt.
Auch § 130 Abs. 3 AO könne den Rechtsfrieden schon deshalb nicht in der erforderlichen Weise wahren, weil die dort festgelegte Frist erst zu laufen beginnt, wenn das Finanzamt die Rechtswidrigkeit seiner Steuererstattung erkannt hat. Dass der Rückzahlungsanspruch des Finanzamts möglicherweise verjähre, bevor das Finanzamt diesen überhaupt wahrnimmt, spreche nicht gegen diese.
Folglich ist für den Beginn der Zahlungsverjährung ohne Bedeutung, ob das Finanzamt den Rückzahlungsanspruch überhaupt selbst wahrnimmt. Der Stpfl. ist auch nicht verpflichtet, überhöhte Steuererstattungen dem Finanzamt mitzuteilen, soweit diese nicht auf eigenem Verhalten oder Verhalten des Beraters beruhen (→ Anzeige- und Berichtigungspflicht gem. § 153 AO). Umgekehrt gilt aber auch: Ist eine Abschlusszahlung ausgewiesen worden, in der keine oder zu geringe Vorauszahlungen berücksichtigt worden sind, verjährt der Anspruch des Stpfl. auf Verrechnung oder Rückzahlung solcher Vorauszahlungen dann, wenn seit jener Abrechnungsentscheidung die Zahlungsverjährungsfrist abgelaufen ist.
Im o.a. Streitfall wurde bei der Datenerfassung für den Veranlagungszeitraum 1997 die für den Kläger einbehaltene Lohnsteuer in einem Änderungsbescheid im Jahr 2002 versehentlich mit dem zehnfachen Wert (153 550 DM statt 15 355 DM) eingegeben. Die fehlerhafte Eingabe führte zu einer Einkommensteuererstattung i.H.v 70 995 € und zur Festsetzung von Erstattungszinsen i.H.v. 14 182 €. Bei einer in 2008 durchgeführten Überprüfung wurde das Finanzamt auf die unrichtige Erfassung der anzurechnenden Lohnsteuer aufmerksam gemacht. Daraufhin erließ das Finanzamt in 2008 eine auf § 130 Abs. 2 Nr. 4 AO gestützte geänderte Anrechnungsverfügung zur Einkommensteuer 1997 und forderte 70 657 € nebst Zinsen zur Einkommensteuer i.H.v. 26 441 € nach. Wegen Eintritt der Zahlungsverjährung mit Ablauf 2007 war die Rückforderung unzulässig.
Die OFD Hannover nimmt mit Verf. vom 3.6.2008 (S 0351-77-StO 143, LEXinform 5231504) dazu Stellung, ob die Vorschriften über die Festsetzungsverjährung zu beachten sind. Danach ist zu beachten, dass eine Anrechnung von Kapitalertragsteuer gem. § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG nur zulässig ist, soweit sie auf die bei der Veranlagung erfassten Einkünfte entfällt. Die nachträgliche Anrechnung der Kapitalertragsteuer scheidet deshalb aus, wenn die betreffenden Kapitalerträge wegen eingetretener Festsetzungsverjährung nicht mehr der Einkommensteuer unterworfen werden können. Damit greift in diesen Fällen faktisch die Festsetzungs- und nicht die Zahlungsverjährung.
Die Anwendung der zehnjährigen Festsetzungsfrist gem. § 169 Abs. 2 Satz 2 AO setzt voraus, dass der Tatbestand der → Steuerhinterziehung i.S.d. § 370 AO objektiv und subjektiv erfüllt ist. In Fällen der Berücksichtigung von Anrechnungsbeträgen ist erforderlich, dass sich nach Berücksichtigung dieser Anrechnungsbeträge ein erhöhter Steueranspruch ergibt. Gegenüberzustellen sind demnach die Steuer nach den bisherigen (unberechtigten oder unterlassenen) Angaben (= Steuer-Ist) und die Steuer nach dem gesetzlichen Tatbestand, wie sie sich nachträglich darstellt (= Steuer-Soll), jeweils unter Berücksichtigung der Steueranrechnungsbeträge. Soweit sich der Steueranspruch hiernach, z.B. durch nachträgliche Berücksichtigung von Kapitalertragsteuern, ermäßigt, liegt schon objektiv keine Steuerverkürzung i.S.d. § 370 AO vor.
In dieser Fallkonstellation verbleibt es wegen der bereits eingetretenen → Festsetzungsverjährung bei der bisherigen Steuerfestsetzung. Eine Anrechnung der Kapitalertragsteuer kann wegen § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG nicht vorgenommen werden.
Durch die Einführung der → Abgeltungsteuer ist – entsprechend der Zielsetzung des § 43 Abs. 5 EStG (Abgeltungswirkung) – eine Anrechnung der Kapitalertragsteuer nach Eintritt der Bestandskraft der Einkommensteuerfestsetzung nicht mehr möglich, wenn der Stpfl. mit seiner Einkommensteuererklärung keinen Antrag auf Günstigerprüfung gem. § 32d Abs. 4 oder Abs. 6 EStG gestellt hat.
Eine Anrechnung der Kapitalertragsteuer nach Eintritt der Bestandskraft innerhalb der → Zahlungsverjährung in den Fällen, in denen eine Änderung der Steuerfestsetzung im Hinblick auf nachträglich bekannt gewordene Kapitalerträge bei entsprechender Berücksichtigung unterbleiben würde, weil die Einnahmen aus Kapitalvermögen unter Einbeziehung der nachträglich bekannt gewordenen Kapitalerträge den Sparer-Pauschbetrag (§ 20 Abs. 9 EStG) nicht übersteigen oder die Steuerschuld aus anderen Gründen trotz Berücksichtigung der nachträglich bekannt gewordenen Kapitaleinkünfte unverändert bleibt (sog. Nullfälle), kommt nicht in Betracht. Bei den Wahlrechten nach § 32d Abs. 4 und Abs. 6 EStG sind die allgemeinen Grundsätze über steuerliche Wahlrechte zu beachten (vgl. AEAO vor §§ 172–177, Nr. 8). Danach können nach Eintritt der Unanfechtbarkeit der Steuerfestsetzung Wahlrechte grundsätzlich nur noch ausgeübt werden, soweit die Steuerfestsetzung nach §§ 129, 164, 165, 172 ff. AO oder nach entsprechenden Regelungen in den Einzelsteuergesetzen unter Beachtung der Fehlerkompensation i.S.d. § 177 AO sowie der Anfechtungsbeschränkung gem. § 351 Abs. 1 AO korrigiert werden können. Vgl. hierzu auch das BMF-Schreiben vom 19.5.2022 (BStBl I 2022, 742, Rn. 145; vgl. auch BFH vom 21.8.2019, X R 16/17, BStBl II 2020, 99). Eine Ausnahme gilt für Wahlrechte, für deren Ausübung das Gesetz keine Frist vorsieht und für die es grundsätzlich auch keine Bindung an die einmal getroffene Wahl gibt, wenn ihre Ausübung die Besteuerungsgrundlagen unberührt lässt.
Auch in den Fällen, in denen dem Stpfl. erst nach materieller Bestandskraft des Bescheides noch von anderen Stellen als Banken Unterlagen zugehen, aus denen sich anrechenbare Steuerabzugsbeträge ergeben (z.B. Hausverwalterabrechnungen), können die Anträge nach § 32d Abs. 4 und Abs. 6 EStG nach Eintritt der Bestandskraft nicht mehr gestellt werden. Damit bleibt es bei der abgeltenden Besteuerung durch den Kapitalertragsteuerabzug. Stpfl., die bereits vor Erstellung der Steuererklärung Kenntnis darüber haben, dass sie mit einer Erstattung einbehaltener Kapitalertragsteuer rechnen können, müssen daher rechtzeitig einen Antrag nach § 32d Abs. 4 und Abs. 6 EStG stellen. Auf die Möglichkeit der Günstigerprüfung wird bereits mit der Anleitung zur Einkommensteuererklärung hingewiesen. Steuerberater sollten aus Haftungsgründen in allen Fällen die Einkünfte aus Kapitalvermögen erklären (auch wenn sich wegen der Freibeträge keine steuerliche Auswirkung ergibt) und einen Antrag auf Günstigerprüfung stellen, um später in einem evtl. Korrekturverfahren die Anrechnung von Steuerabzugsbeträgen erreichen zu können.
Der BFH hat mit Urteil vom 12.5.2015 (VIII R 14/13, BFHE 250, 64, BStBl II 2015, 806) entschieden, dass der zeitlich unbefristete Antrag auf Günstigerprüfung gem. § 32d Abs. 6 EStG nach der Unanfechtbarkeit des Einkommensteuerbescheids nur dann zu einer Änderung der Einkommensteuerfestsetzung führen kann, wenn die Voraussetzungen einer Änderungsvorschrift erfüllt sind. Im Fall eines Antrags nach § 32d Abs. 4 oder 6 EStG ist die zunächst mit Abgeltungswirkung (§ 43 Abs. 5 Satz 1 EStG) einbehaltene Kapitalertragsteuer der bisher festgesetzten Steuer hinzuzurechnen (vgl. BFH Urteil vom 12.5.2015, VIII R 14/13, BStBl II 2015, 806). Als Vergleichsmaßstab für die Frage, ob eine Steuererhöhung oder Steuerminderung vorliegt, ist also der bisher festgesetzten Steuer gedanklich die einbehaltene Kapitalertragsteuer hinzuzurechnen.
Führt die Günstigerprüfung nach § 32d Abs. 6 EStG insgesamt zu einer niedrigeren Einkommensteuer, kommt eine Änderung des Bescheids nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO nur dann in Betracht, wenn den Steuerpflichtigen an dem nachträglichen Bekanntwerden der abgegolten besteuerten Kapitaleinkünfte kein grobes Verschulden trifft (vgl. auch BFH vom 21.8.2019, X R 16/17, BStBl II 2020, 99).
Weder der Antrag auf Günstigerprüfung nach § 32d Abs. 6 EStG noch die Vorlage einer Steuerbescheinigung sind ein rückwirkendes Ereignis i.S.d. § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO (BFH vom 21.8.2019, X R 16/17, BStBl II 2020, 99).
Die ab 1.1.2015 geltende Korrektur- und Verjährungsvorschrift des § 218 Abs. 3 AO ermöglicht die Korrektur von widerstreitenden Anrechnungsverfügungen bzw. Abrechnungsbescheiden unter entsprechender Anwendung des § 174 Abs. 4 und 5 AO. Beantragt z.B. ein Ehegatte die Korrektur seiner Anrechnungsverfügung zu seinen Gunsten, ermöglicht es § 218 Abs. 3 AO, eine sich danach ergebende widerstreitende Anrechnung beim anderen Ehegatten zu korrigieren. Der zugrunde liegende einheitliche Lebenssachverhalt ist bei allen Beteiligten übereinstimmend zu beurteilen. Die nachteilige Korrektur gegenüber den anderen Beteiligten ist nur zulässig, wenn diese am Ausgangsverfahren beteiligt wurden und die Entscheidung im Ausgangsverfahren allen Beteiligten bekannt gegeben wurde. Rechtsbehelfe können nur gegen den im Ausgangsverfahren erlassenen Verwaltungsakt eingelegt werden.
Wurde die Korrektur einer Anrechnungsverfügung zu Gunsten nicht auf Antrag des Steuerpflichtigen durchgeführt (Änderung von Amts wegen), ist § 218 Abs. 3 AO nicht anwendbar.
Die → Kleinbetragsverordnung (KBV) ist auch auf Änderungen oder Berichtigungen von Bescheiden über die Ablehnung eines Antrags auf Durchführung einer Veranlagung anzuwenden.
Ist ausschließlich die Anrechnung der Steuerabzugsbeträge zu Ungunsten des Stpfl. zu berichtigen, ohne dass die Steuerfestsetzung selbst geändert wird, so findet § 1 KBV unmittelbar keine Anwendung. Es bestehen jedoch keine Bedenken, auch in diesen Fällen bei Abweichungen zum Nachteil des Stpfl. von weniger als 10 € von einer Berichtigung abzusehen (OFD Hannover vom 1.9.2004, Tz. 2.1.2, ersatzlos aufgehoben mit Wirkung vom 30.8.2018).
Darüber hinaus findet die KBV auch auf steuerliche Nebenleistungen keine Anwendung.
Sikorski, Korrektur von Steuerbescheiden bei einbehaltener Abgeltungssteuer, NWB 9/2016, 621.
→ Allgemeinverfügung, Erledigung von Massenanträgen und -einsprüchen
→ Änderung von Steuerbescheiden nach § 175 AO
→ Anzeige- und Berichtigungspflicht gem. § 153 AO
→ Aufhebung und Änderung von Steuerbescheiden
→ Haftung
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