1 Allgemeines
2 Voraussetzungen der tatsächlichen Verständigung
3 Durchführung der tatsächlichen Verständigung
4 Rechtsfolgen der tatsächlichen Verständigung
5 Aufhebung/Änderung der tatsächlichen Verständigung
6 Anfechtung der tatsächlichen Verständigung
7 Unwirksamkeit der tatsächlichen Verständigung
8 Abgrenzung zur verbindlichen Auskunft
9 Literaturhinweise
10 Verwandte Lexikonartikel
Mit Schreiben vom 30.7.2008 (BStBl I 2008, 831; Neueinfügung von Satz 6 und 7 und Umbenennung vom bisherigen Satz 6 in Satz 8 in Tz 5.5 und Teiländerung in Tz. 6.1 durch BMF-Schreiben vom 15.4.2019, BStBl I 2019, 447) veröffentlichte das BMF eine Stellungnahme zur tatsächlichen Verständigung über den der Steuerfestsetzung zugrunde liegenden Sachverhalt.
Nach dem in § 88 Abs. 1 Satz 1 AO normierten Untersuchungsgrundsatz hat die Finanzbehörde den Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln. Nach § 88 Abs. 1 Satz 2 AO bestimmt sie Art und Umfang der Ermittlungen. Die Finanzbehörde ist an das Vorbringen und an die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden. Der Umfang dieser Pflichten richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls.
In Fällen erschwerter Sachverhaltsermittlung ist unter bestimmten Voraussetzungen zur Förderung der Effektivität der Besteuerung als auch zur Sicherung des Rechtsfriedens eine die Beteiligten bindende Einigung über die Annahme eines bestimmten Sachverhalts und über eine bestimmte Sachbehandlung möglich. Derartige Vereinbarungen zwischen dem Stpfl. und der Finanzbehörde werden als tatsächliche Verständigung bezeichnet.
Zum Untersuchungsgrundsatz (s.a. AEAO zu § 88 Nr. 1). Danach haben die Finanzbehörden neben dem Untersuchungsgrundsatz auch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Die Ermittlungshandlungen dürfen danach zu dem angestrebten Erfolg nicht erkennbar außer Verhältnis stehen. Sie sollen so gewählt werden, dass damit unter Berücksichtigung der Verhältnisse des Einzelfalles ein möglichst geringer Eingriff in die Rechtssphäre des Beteiligten oder Dritter verbunden ist. Der Gewährung rechtlichen Gehörs kommt besondere Bedeutung zu.
Trotz des in § 85 AO festgelegten Legalitätsprinzips können bei den Entscheidungen der Finanzbehörden Erwägungen einbezogen werden, die im Ergebnis Zweckmäßigkeitserwägungen gleichzustellen sind. Für die Anforderungen, die an die Aufklärungspflicht der Finanzbehörden zu stellen sind, darf die Erwägung eine Rolle spielen, dass die Aufklärung einen nicht mehr vertretbaren Zeitaufwand erfordert. Dabei kann auf das Verhältnis zwischen voraussichtlichem Arbeitsaufwand und steuerlichem Erfolg abgestellt werden. Die Finanzämter dürfen auch berücksichtigen, in welchem Maße sie durch ein zu erwartendes finanzgerichtliches Verfahren belastet werden, sofern sie bei vorhandenen tatsächlichen oder rechtlichen Zweifeln dem Begehren des Stpfl. nicht entsprechen und zu seinem Nachteil entscheiden. In Fällen erschwerter Sachverhaltsermittlung dient es unter bestimmten Voraussetzungen der Effektivität der Besteuerung und allgemein dem Rechtsfrieden, wenn sich die Beteiligten über die Annahme eines bestimmten Sachverhalts und über eine bestimmte Sachbehandlung einigen können (BFH Urteil vom 11.12.1984, VIII R 131/76, BStBl II 1985, 354).
Voraussetzung für eine tatsächliche Verständigung ist das Vorliegen eines Sachverhalts, der nur unter erschwerten Umständen ermittelt werden kann. Das ist z. B. der Fall, wenn sich einzelne Sachverhalte nur mit einem nicht mehr vertretbaren Arbeits- oder Zeitaufwand ermitteln lassen (vgl. AEAO zu § 88 AO Nr. 1). Allein die Kompliziertheit eines Sachverhalts begründet für sich noch nicht die Annahme einer erschwerten Sachverhaltsermittlung.
Die tatsächliche Verständigung kommt insbes. in den Fällen in Betracht, in denen ein Schätzungsspielraum, Bewertungsspielraum, Beurteilungsspielraum oder Beweiswürdigungsspielraum besteht. Gegenstände von tatsächlichen Verständigungen können z.B. Zuschätzungen nach Kalkulationsdifferenzen sein, Abgrenzungen und Aufteilungen hinsichtlich privater und betrieblicher Nutzung, die Bewertung von Teilwerten, die Einigung über Ermessensausübungen oder die Angemessenheit von Geschäftsführergehältern.
Bei Vorliegen grenzüberschreitender Sachverhalte ist das Instrument der tatsächlichen Verständigung nur zurückhaltend anzuwenden (BMF vom 23.6.2023, BStBl I 2023, 1074; LEXinform 7013592). Die bestehenden Instrumente der internationalen Verwaltungszusammenarbeit, z.B. die Möglichkeit einer grenzüberschreitenden Betriebsprüfung, sowie insbes. § 162 Abs. 2 bis 4 AO sind zu berücksichtigen. Soll im Einzelfall der Abschluss einer tatsächlichen Verständigung in grenzüberschreitenden Sachverhalten erfolgen, sollte die tatsächliche Verständigung zusätzlich auch von der ggf. im Ausland ansässigen Konzernspitze unterzeichnet werden.
Die tatsächliche Verständigung ist z.B. nicht zulässig
zur Klärung zweifelhafter Rechtsfragen (BFH Urteil vom 16.9.2014, VIII R 1/12, NV, StuB 2015, 316),
über den Eintritt bestimmter Rechtsfolgen,
über die Anwendung bestimmter Rechtsvorschriften,
bei wegen Steuerhinterziehung festzusetzenden Hinterziehungszinsen (FG Rheinland-Pfalz Urteil vom 12.4.2018, 6 K 2254/17, EFG 2018, 994). Inhalt einer tatsächlichen Verständigung können nur Sachverhaltsfragen, nicht Rechtsfragen sein. Eine Rechtsfrage ist z.B. gegeben, wenn darüber zu entscheiden ist, ob das Verhalten eines Steuerpflichtigen eine Steuerhinterziehung darstellt und welche Schlussfolgerungen daraus in strafrechtlicher und steuerlicher Hinsicht (z.B. die zwingende Festsetzung von Hinterziehungszinsen) zu ziehen sind,
wenn sie zu einem offensichtlich unzutreffenden Ergebnis führen.
Die tatsächliche Verständigung dient der Herstellung des Rechtsfriedens und der Vermeidung von Rechtsbehelfen, indem der Arbeits- und Zeitaufwand für die Ermittlung des maßgeblichen Sachverhalts auf ein vertretbares Maß beschränkt werden soll. In Fällen, denen keine wesentliche Bedeutung zukommt, soll eine Einigung außerhalb einer tatsächlichen Verständigung angestrebt werden. Es kann z.B. eine (ggf. auch fernmündliche) Einigung in Form einer Absprache für die Behandlung im Besteuerungsverfahren mit anschließendem Aktenvermerk getroffen werden.
Eine tatsächliche Verständigung soll sich grundsätzlich nur auf einen einzelnen Sachverhalt beziehen. Sollen tatsächliche Verständigungen über mehrere Sachverhalte herbeigeführt werden, sind in der Regel auch mehrere, voneinander unabhängige tatsächliche Verständigungen anzustreben.
Der Inhalt der tatsächlichen Verständigung ist in einfacher, aber beweissicherer Form unter Darstellung der Sachlage schriftlich festzuhalten und von den Beteiligten aus Beweisgründen zu unterschreiben. Es genügt, wenn die Ergebnisse der tatsächlichen Verständigung in dieser Form festgehalten werden. Ausführungen zu den Rechtsfolgen einer tatsächlichen Verständigung sind in der Regel nicht aufzunehmen. In dieser Niederschrift sind die Beteiligten in eindeutiger und zweifelsfreier Form auf die Bindungswirkung der tatsächlichen Verständigung hinzuweisen. Dies dient der Vermeidung von Irrtümern und den sich daraus unter Umständen ergebenden Anfechtungsmöglichkeiten. Den Beteiligten ist eine Ausfertigung der Vereinbarung auszuhändigen. Tz. 5.5 des BMF-Schreibens vom 30.7.2008 (BStBl I 2008, 831) enthält ein Beispiel einer Niederschrift. Unter Bezugnahme auf das Ergebnis der Erörterungen mit den obersten Finanzbehörden der Länder wird das BMF-Schreiben vom 30.7.2008 unter Tz. 5.5 wie folgt ergänzt: Das Dokument über den Abschluss der tatsächlichen Verständigung hat in dem Falle, in dem der für die Entscheidung zuständige Amtsträger (dieser muss befugt sein, die Steuerfestsetzung schlussendlich zu zeichnen) an ihrem Abschluss ausnahmsweise nicht mitgewirkt hat, zusätzlich einen Hinweis darauf zu enthalten, dass die tatsächliche Verständigung bis zur nachträglichen Zustimmung durch den für die Steuerfestsetzung zuständigen Amtsträger schwebend unwirksam ist. Darüber hinaus muss bis zum Zeitpunkt der nachträglichen Zustimmung auch dem Steuerpflichtigen ein Widerrufsrecht eingeräumt werden (vgl. BMF vom 15.4.2019, BStBl I 2019, 447; AEAO zu § 201, Nr. 5, BMF vom 20.1.2021, BStBl I 2021, 128).
Tatsächliche Verständigungen können bei der Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen getroffen werden. Insbes. können insoweit das Veranlagungs- oder Feststellungsverfahren, das Außenprüfungsverfahren, das Steuerfahndungsverfahren oder das Rechtsbehelfsverfahren betroffen sein. Vereinbarungen zwischen dem Steuerpflichtigen und der Finanzbehörde über den der Besteuerung zugrunde zu legenden Sachverhalt sind zulässig und verlangen, dass auf Seiten der Finanzbehörde ein Amtsträger beteiligt ist, der eine Entscheidung über die Steuerfestsetzung treffen kann (in der Regel der Vorsteher, der Veranlagungssachgebietsleiter oder u.U. auch der Leiter der Rechtsbehelfsstelle). Auf dessen Beteiligung kann auch für den Fall, dass die Vereinbarung im Rahmen einer Außenprüfung – insbes. bei einer Schlussbesprechung – zustande kommt, nicht verzichtet werden (BFH Urteil vom 28.7.1993, XI R 68/92, BFH/NV 1994, 290; BFH Urteil vom 27.6.2018, X R 17/17, BFH/NV 2019, 97).
Eine tatsächliche Verständigung über eine Rechtsfrage ist grds. unwirksam. Ist eine Rechtsfrage wie die Schätzungsbefugnis im Rahmen des § 162 AO jedoch so mit einer Tatsachenfeststellung verquickt, dass eine Verständigung bezüglich der einen ohne die andere nicht möglich erscheint, ist eine Verständigung auch über die Rechtsfrage zulässig (Niedersächsisches FG vom 6.10.2021, 9 K 188/18, EFG 2022, 633).
Die Bindungswirkung ergibt sich nicht erst durch die Berücksichtigung der tatsächlichen Verständigung im Steuerbescheid (BFH Urteile vom 6.2.1991, I R 13/86, BStBl II 1991, 673, vom 31.7.1996, XI R 78/95, BStBl II 1996, 625). Mit Abschluss der tatsächlichen Verständigung sind die Beteiligten an die vereinbarte Tatsachenbehandlung nach dem Grundsatz von Treu und Glauben gebunden, wenn sie wirksam und unanfechtbar zustande gekommen ist. Eine tatsächliche Verständigung bindet nur die an ihrem Zustandekommen Beteiligten, nicht jedoch Dritte (Ausnahme: Gesamtrechtsnachfolger). Bei Dauersachverhalten (z.B. Festlegung der Nutzungsdauer eines Wirtschaftsgutes) wirkt sich die tatsächliche Verständigung wegen ihrer Dauerwirkung unter der Voraussetzung gleichbleibender Umstände auch auf zukünftige Veranlagungszeiträume aus.
Die Bindungswirkung einer im Rahmen einer Außenprüfung getroffenen tatsächlichen Verständigung über eine bestimmte Behandlung eines Sachverhalts bindet die Finanzbehörde bereits vor Erlass der darauf beruhenden Bescheide (BFH Urteil vom 31.7.1996, BStBl II 1996, 625). Die nachträgliche Genehmigung der tatsächlichen Verständigung durch den zuständigen Amtsträger in entsprechender Anwendung von §§ 177, 184 BGB führt nicht zur Wirksamkeit der tatsächlichen Verständigung. Damit wird der eingeschränkten Rechtsweggarantie nach Art. 19 Abs. 4 GG des Stpfl. bei einer tatsächlichen Verständigung entgegengewirkt und die erforderliche Warnfunktion über die einschneidenden Wirkungen seiner Zustimmung zu der Verständigung gewährleistet (BFH Urteil vom 27.6.2018, X R 17/17, BFH/NV 2019, 97).
Die tatsächliche Verständigung kann von den Beteiligten einvernehmlich aufgehoben oder geändert werden. Im Hinblick auf den Zweck dieses Rechtsinstituts sollte dies jedoch auf Ausnahmefälle beschränkt bleiben.
Erfolgt dennoch eine einvernehmliche Aufhebung oder Änderung der tatsächlichen Verständigung, ist dabei zu beachten, dass die Aufhebung oder Änderung des Verwaltungsaktes (→ Aufhebung und Änderung von Steuerbescheiden), dessen Bestandteil die tatsächliche Verständigung ist, nur dann in Betracht kommt, wenn dies nach den verfahrensrechtlichen Bestimmungen zulässig ist.
Die Voraussetzungen der Wirksamkeit einer tatsächlichen Verständigung werden im Verfahren über die Anfechtung des hierauf gestützten Festsetzungs- oder Feststellungsbescheids inzident geprüft (vgl. BFH Urteil vom 12.6.2017, III B 144/16, BStBl II 2017, 1165). Hat der Steuerpflichtige die auf eine tatsächliche Verständigung gestützten Festsetzungs- und Feststellungsbescheide mangels Einlegung eines Einspruchs bestandskräftig werden lassen, ist bei einer auf Feststellung der Unwirksamkeit der tatsächlichen Verständigung gerichteten Klage auch dann die Subsidiaritätsklausel des § 41 Abs. 2 Satz 1 FGO zu beachten, wenn der Steuerpflichtige die tatsächliche Verständigung mit einem Einspruch angreift und das Finanzamt diesen als unzulässig verwirft.
Die tatsächliche Verständigung ist dann unwirksam, wenn sie unter Ausübung unzulässigen Drucks auf den Stpfl. oder durch dessen unzulässige Beeinflussung zustande gekommen ist.
Die Tz. 8 des BMF-Schreibens vom 30.7.2008 (BStBl I 2008, 831) enthält weitere Gründe und Fallbeispiele für die Unwirksamkeit der tatsächlichen Verständigung.
Nach Geltendmachung der Unwirksamkeit ist die weitere Behandlung davon abhängig, ob die tatsächliche Verständigung bereits in einem Verwaltungsakt berücksichtigt worden ist (BMF vom 30.7.2008, BStBl I 2008, 831, Tz. 8.3.2) oder nicht (BMF vom 30.7.2008, BStBl I 2008, 831, Tz. 8.3.1).
Die Bindungswirkung einer tatsächlichen Verständigung im Steuerfestsetzungsverfahren kann nach den Grundsätzen vom Fehlen oder Wegfall der Geschäftsgrundlage ausnahmsweise entfallen, wenn ihr eine (irrtümlich) von beiden Parteien angenommene Geschäftsgrundlage von vornherein gefehlt hat oder wenn sie nachträglich weggefallen ist und einem der Beteiligten unter Berücksichtigung der Gesamtumstände ein Festhalten an dem Vereinbarten nicht zuzumuten ist (vgl. BFH Urteil vom 11.4.2017, IX R 24/15, BStBl II 2017, 1155, LEXinform 0446994).
Im Gegensatz zur verbindlichen Auskunft (→ Verbindliche Auskunft) gem. § 89 Abs. 2 AO bezieht sich die tatsächliche Verständigung ausschließlich auf abgeschlossene Sachverhalte. Wirkt sich allerdings der in der tatsächlichen Verständigung festgelegte Sachverhalt auch in die Zukunft aus und sollte sie sich nach dem Willen der Beteiligten auch hierauf erstrecken, tritt unter der Voraussetzung gleichbleibender Verhältnisse insoweit ebenfalls eine Bindungswirkung ein (z.B. Festlegung der Nutzungsdauer eines Wirtschaftsgutes oder Abgrenzung von Erhaltungsaufwand (→ Gebäude, Ausbau/Umbau) und Herstellungsaufwand (→ Herstellungskosten).
Hannig, Steuerplanungssicherheit und Verfahrensbeschleunigung durch Nutzung kooperativer Handlungsinstrumente, NWB 29/2015, 2166; Billau, Bindungswirkung einer tatsächlichen Verständigung – Zugleich Besprechung des BFH-Urteils vom 11.4.2017 – IX R 24/15, NWB 5/2018, 261; Rätke, Tatsächliche Verständigung mit dem Finanzamt, BBK Nr. 16 vom 16.8.2019, 787; Wenzel, Bindung von Schlussbesprechungen nach Betriebsprüfungen, NWB 45/2022, 3182.
→ Aufhebung und Änderung von Steuerbescheiden
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